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“Der Flug des Ikaros“ von Kevin Andrews

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2020-03-05 2020-03-05 05.03.2020

Der Archäologe und Schriftsteller Kevin Andrews wurde 1924 in Peking geboren, sein Vater war Engländer, seine Mutter Amerikanerin. Nach seinem Studium an der Harvard University bekam er 1947 ein Stipendium für die American School of Classical Studies in Athen.
“Das Stipendium, das ich gewann – 1947, ich war 23 Jahre alt – und mir die Möglichkeit gab, für ein Jahr nach Athen zu reisen, war ein Zufall, denn niemand anderes hatte sich beworben, und es ist nur deshalb erwähnenswert, weil es der Grund war, der mich nach Griechenland brachte“.
Nach einem Monat auf Paros, wo er Freunden bei der Weinlese half, kam er nach Athen. Nach Ablauf des ersten Jahres erhielt er von der American School of Classical Studies ein weiteres Stipendium: „Mit einer Großzügigkeit, die ich sicher nicht verdient hatte, gab mir die Schule ein zweites Stipendium. Ich würde in Griechenland bleiben, um die Burgen zu erforschen, die vom Mittelalter an bis zum 18. Jahrhundert byzantinische Kriegsherren und ehrgeizige fränkische Kreuzfahrer, türkische Eroberer und venezianische Händler erbaut hatten, um die Häfen und die Bergübergänge des Peloponnes zu schützen. Es war ein noch unerforschtes Thema, genauso wie die griechische Provinz, wo die Ausländer nie hingingen. Ich würde ohne beaufsichtigenden Professor arbeiten und in meinem eigenen Rhythmus reisen. Und schließlich würde ich ein Buch schreiben, das die Schule herausgeben würde. Im Juli 1948 stellte mir das Ministerium für Öffentliche Ordnung die Reiseerlaubnis aus, ’gültig für vielfache Reisen innerhalb des gesamten griechischen Hoheitsgebietes’, ich holte also meine Ausrüstung heraus, den Rucksack und meinen Schlafsack, und verließ Athen für irgendeinen Bestimmungsort, der jenseits des Isthmus von Korinth zugänglich war“.
Trotz gesundheitlicher Probleme – er litt an Epilepsie – war er gut vorbereitet für diese Aufgabe, durchstreifte die griechische Landschaft mit dem Zug, Bus oder zu Fuß, und verbrachte so mehrere Jahre mit dem Zeichnen, Vermessen und Fotografieren der mittelalterlichen Burgen. Die Gelegenheit, während des griechischen Bürgerkriegs in abgelegene Gegenden zu reisen, lange bevor die touristische und industrielle Entwicklung Griechenlands stattfand, brachte ihn in direkten Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Seine Forschungsergebnisse veröffentlichte er schließlich in seinem Buch „Castles of the Morea“, erschienen 1953 bei der American School of Classical Studies als Bd. 4 der Reihe Gennadeion monographs; seine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse auf seinen Reisen in der Zeit des Bürgerkriegs schildert er in „The Flight of Ikaros: a journey into Greece“, erschienen 1959. Im Jahr 2018 ist davon eine griechische Ausgabe unter dem Titel „Η πτήση του Ικαρου: ταξιδεύοντας στην Ελλάδα του Εμφυλίου” bei den Ekdoseis Papadopoulos erschienen; eine deutsche Ausgabe des Buches gibt es (bisher) leider nicht. Nach dem Urteil von Patrick Leigh Fermor handelt es sich bei „The flight of Ikaros“ um das „hervorragendste und eindringlichste Buch, das nach dem Krieg über die bitteren und häufig tragischen Seiten des Lebens in der griechischen Provinz“ geschrieben wurde.
Aus den vielen Geschichten, die Kevin Andrews in „Η πτήση του Ικαρου” schildert, habe ich die Begegnung des Autors mit Papa-Stávros ausgewählt und ins Deutsche übersetzt.

Eines Tages, Ende November 1949, ging ich zwischen den nassgeregneten, schwarzen Stämmen eines Olivenhaines, und mit jedem meiner Schritte ergaben sich unbegrenzte Aussichten in alle Richtungen; Aussichten, bei denen ich sah, wie sie sich veränderten und sich überkreuzten, sich auflösten und zusammenkamen, während ich dem Fußpfad folgte, der eine von den unzähligen ähnlichen Alleen hinunterführte, unter demselben breiten, niedrigen Himmel.
Der Gastwirt in der Stadt, von der ich aufgebrochen war, gab mir den Rat, den Pfarrer des Dorfes aufzusuchen. Ich würde in seinem Haus wohnen und in der benachbarten Burg arbeiten. Nur das wußte ich und sonst nichts. Es war aufregender, die Begegnungen nicht zu kennen, die mich zwischen den weißen Mauern des Dorfes, das ich unten sah, erwarteten.
Nach den Olivenhainen war der Weg ein matschiger Fußpfad, der neben Mauern mit abgeblättertem Putz entlang lief und zu einem offenen Platz zwischen verlassenen Gerippen verbrannter Häuser führte. Es war der Dorfplatz, doch ich sah niemanden dort, bei dem abnehmenden Licht.
Es kam eine Frau vorbei, beladen mit einem Bündel Holz; ich fragte sie, wo ich den Pfarrer finden könnte.
„Den Papa-Stávros? Dort unten ist er, bei den Oliven“. Sie winkte einem Jungen, der in einer geöffneten Tür stand. „Geh mit dem Onkel und zeige ihm, wo der Großvater ist“.
Der Junge rannte davon; ich folgte ihm zu einem Olivenbaum, wo Frauen ein Sackleintuch ausbreiteten und ein Mann auf einer Leiter stehend auf die oberen Äste schlug. Die Früchte fielen wie Hagelkörner auf das Sackleinen.
„Ein Fremder sucht den Großvater“, sagte der Junge und machte sich aus dem Staub.
Die Frauen richteten sich auf und drehten sich zum Betrachten um.
Der Mann, der auf die oberen Äste schlug, eine zerbrechliche Gestalt mit weißem Bart und langen weißen Haaren, stieg die Leiter herunter.
„Ach so? Ich habe dich für meinen Sohn gehalten!“ sagte er und kam, das trockene Gras überquerend, zu mir. „Auch er hat blaue Augen. Er ist gerade von der Armee entlassen worden; ich warte schon seit Tagen auf ihn“.
Ich fing mit der Vorrede an – wer ich war und was ich machte – aber er unterbrach mich. „Aber ich freue mich, dass du gekommen bist“, sagte er mit mildem, fast leerem Blick. Zu den anderen sagte er: „Haben wir für heute nicht genug gesammelt?“
Sie holten einen Esel; der Alte lud ihm einen Korb mit Oliven auf, und die Frauen banden ihn am Sattel fest. „Großvater, du strapazierst uns!“ riefen sie ihm lachend zu.
Auf dem Rückweg zum Dorf sagte der Alte zu mir „Ich lebe allein, weißt du. Meine Frau ist gestorben und meine Gastfreundschaft wird armselig sein“.
Als wir an einem der verbrannten Häuser ankamen, zeigte er mir dessen verkohlten Wände und dessen Fenster, die leeren Augenhöhlen in einem Schädel glichen.
„Das Elend der Griechen!“, sagte er.
„Die Deutschen haben das getan“, sagte eine der Frauen, als wir an einer Steinbaracke neben dem Haus anhielten.
Eine andere sagte: „Ja, die Deutschen!“
Sie luden den Korb ab, nahmen den Esel und gingen fort.
„Hier haben wir unser Brot gebacken“, sagte der Pfarrer. „Jene Ruine war mein Haus. Jetzt lebe ich hier. Ich bin betrübt, denn ich bin allein und kann dich nicht so gut versorgen wie es dir gebührt“.
“Aber Sie wissen nichts über mich“, sagte ich. „In unseren Tagen nehmen die Menschen einen Fremden nicht immer gut auf“.
Er zeigte ungeduldig zum Himmel. „Es gibt einen Gott, nicht wahr? Was braucht man da über einen Fremden zu wissen?“
Er öffnete die Tür der Baracke mit einem Stoß und wir stiegen hinab in ein Zimmer ohne Fenster, das um einen Holzofen mit schwerem Eisentürchen herum gebaut war. Seit langer Zeit erloschene Feuer hatten seine Decke und Wände geschwärzt. Ein Tisch, ein Bett, ein Korb mit frischen, schwarzen Oliven und eine Wolldecke, ausgebreitet auf Brettern, die auf zwei Holzkisten lagen, verrieten, dass der alte Mann allein lebte.
„Ich habe nichts zu verlieren“, sagte er und zeigte auf seinen Besitz. Er zog sein Priestergewand über seine Arbeitskleidung an, band sein Haar zu einem Knoten und steckte ihn unter seinen hohen Hut. „Gehen wir uns wenigstens etwas amüsieren. Seit langem ist kein Fremder ins Haus gekommen“.
Die Dämmerung war früh auf dem kleinen Dorfplatz eingefallen; die Dorfbewohner, die sich dort für den Abend versammelt hatten, hoben ihre Blicke und flüsterten untereinander, als wir vorbeikamen, um in die Taverne zu gehen. Wir setzten uns in eine Ecke. Im Licht der Lampe musterten uns schweigend ungefähr fünfzehn Personen. Der Pfarrer bestellte für uns Wein. Keiner sprach. Die Minuten vergingen langsam.
„ Es kommen nicht viele Fremde in letzter Zeit, oder?“
Meine Frage hörte sich an wie ein Stein, der in einen Höhleneingang fällt, doch der Pfarrer sagte: „Fremde? Hier? Nein. Nie kommen Fremde hierher.“
Jemand von der anderen Seite des Raumes fragte, woher ich war, und in der Dunkelheit tauchten eine nach der anderen der erwartbaren Fragen auf: Wo hatte ich griechisch gelernt? Warum interessierten mich die Burgen? Warum reiste ich zu Fuß, und warum allein?
Ich antwortete mit ausführlicher Offenheit und schlug vor, meine Ausweispapiere bei der Gendarmerie vorzuzeigen.
Papa-Stávros verwarf das mit einem Wink. Eine Stimme im Raum sagte „Ja“. Ich wartete; es gab keine Bewegung.
„Gehen wir?“ sagte der Pfarrer. „Meine Kusinen werden den Tisch gerichtet haben“.
Wieder trat Schweigen ein, als wir aufstanden, um hinauszugehen.
Als ob er mich mitten in der Nacht aus feindlichem Land herausbrächte, um mich in sein eigenes Hoheitsgebiet zu bringen, führte mich der Alte in eine Gasse; eine Tür öffnete sich und eine Hand nahm mich an der Hand und führte mich zur Treppe, die ich hochstieg.
Wir betraten ein Zimmer, angemessen beleuchtet mit genügend Kerzen und Petroleumlampen. Viele junge Leute begrüßten uns und eilten, Stühle herbeizubringen.
Wir saßen alle zusammen um den Tisch herum. Es war nicht nur eine Familie, sagten sie, sondern zwei, die zusammen wohnten, denn das benachbarte Haus hatten sie verbrannt.
„Wie das deinige?“ sagte ich zum Pfarrer.
Er schaute mich an, als verstünde er nicht; ich fragte, wieviel Häuser im Dorf zerstört worden waren.
„Sechs“.
„Und die Menschen, die darin gewohnt haben?“
Jemand sagte „Nun, die meisten leben jetzt zusammen“.
„Die meisten sind im Gefängnis“, sagte Papa-Stávros in aller Klarheit. „Wie der große Sohn meiner Kusine hier, der auf Makrónisos ist“.
In der Ecke saß eine ältere Frau; sie trug eine Brille mit schwarzer Fassung, die ihr den Ausdruck eines gebildeten Menschen gab.
Nach dem Essen öffnete sich plötzlich die Tür, und es traten zwei Bauern ein, ohne anzuklopfen. Die Unterhaltung hörte auf. Sie zogen zwei Stühle her, setzten sich neben mich und begannen mit den Fragen nach den Gewohnheiten, den Interessen, meiner Arbeit. „Und warum kommst du in den Moriás [= Peloponnes] und gehst nicht auf die Inseln? Du müsstest nach Korfu gehen. Die Fremden gehen dorthin“.
„Meine Arbeit führt mich nicht dorthin“.
„Ja, aber diese Burgen, und die Kreuzfahrer, von denen du redest – was genau waren die Kreuzfahrer?“
„Menschen, die vor sehr langer Zeit hierher kamen“. Ich hätte fast hinzugefügt „und großes Unheil im Land angerichtet haben“, doch hielt ich es für besser, die Bemerkung zurückzuhalten. „Es waren Menschen, die lang vor den Türken hierher gekommen sind, als Griechenland – “
„Wenn es dir nichts ausmacht, hätten wir gern deine Ausweispapiere, um sie den Behörden zu zeigen“.
Ich gab ihnen meine Ausweispapiere und sie gingen.
Papa-Stávros schüttelte plötzlich seine Arme, seufzte und drehte den Rücken zur Tür. „Aber dass sie kommen, wo du ein Fremder bist und allein im Land, und von dir die Ausweispapiere verlangen, als wärest du irgendein Verbrecher!“
„In diesen Tagen kann das jeder sein. Das passiert mir ständig, ich habe mich schon daran gewöhnt“.
Die Frau mit der Brille sagte „Der Großvater ist alt und erinnert sich an andere Gewohnheiten“.
„Dennoch, die Gendarmerie hat ihre Pflicht“, sagte ich.
„Pflicht! … Gendarmerie! … Du glaubst, es gibt eine Gendarmerie in diesem Dorf!“ rief der Pfarrer und die anderen wechselten Blicke.
Nach kurzem aber kehrten die zwei Bauern zurück. Sie gaben mir die Ausweispapiere zurück, baten um Verzeihung und gingen.
Ein Gefühl der Erleichterung breitete sich im Zimmer aus. Jemand brachte ein Grammophon und legte eine Platte auf; die Kusinen tanzten im rotierenden Rhythmus eines Syrtos, und die Bodenbretter knarrten, und einige Stühle fielen um. Jemand sagte „Wir feiern jetzt, gehen wir hinunter“.
Wir gingen hinaus, ließen die Frauen im Haus, und brachten das Grammophon und die Platten in die Taverne am Dorfplatz. Dort hatten wir viel mehr Platz. Auch andere Dorfbewohner tanzten mit, während ich und Papa-Stávros uns in eine Ecke setzten.
“He, Großvater … steh auf und tanze mit!“ riefen die Dorfbewohner.
„Lasst mich in Ruhe“.
Einer bückte sich und rief ihm ins Ohr „Steh auf!“ und ein anderer zog ihn am Ärmel und ließ ihn wieder auf den Stuhl zurückfallen. Die anderen lachten. „Heute abend bist du nicht gut drauf, Großvater“.
„Heute habe ich mehr Oliven heruntergeschlagen als ihr alle zusammen“.
„Willst du damit sagen, dass du ein besserer Mann bist als wir?“
„Wir wollen sehen, wieviele Oliven ihr sammelt, wenn ihr achtundsiebzig werdet!“ rief er ihnen über die Musik hinweg zu.
Irgendein ungehobelter Kerl rief ihm zu „Meckere nicht, Großvater, du kannst zufrieden sein, dass du noch lebst!“
„Genießt Eure Jugend“, sagte Papa-Stávros sanft zu ihnen, und zu mir „Siehst du, wie die Zeit im Dorf vergeht?“
Während der Erntezeit der Oliven machte niemand die Nacht durch; so führte mich Papa-Stávros bald wieder zum Haus, auf der anderen Seite des Dorfplatzes.
„Ich möchte dich heute abend gut versorgen“, sagte er. „Das Haus meiner Kusinen ist besser als meines“.
Sie hatten ein Bett in einem Zimmer nur für mich hergerichtet. Ich legte mich auf das harte Strohkissen und beobachtete die winzige Flamme vor den Ikonen an der Wand; bis ich einschlief, stellte ich mir vor, wie die Flammen von brennendem Holz von sechs Häusern noch weitere solche Öllämpchen verschlangen.
Am Morgen schien die Sonne. Die Dorfbewohner waren schon von früh an zu den Olivenbäumen gegangen. Die Mutter der Familie begleitete mich zum Haus des Pfarrers am anderen Rand des Dorfes.
„Wann kam Ihr Sohn ins Gefängnis?“
„1945“.
„Nach den Dezemberkämpfen in Athen?“
„Er war in der Kommunistischen Partei. Zuerst brachten sie ihn nach Kastráki; dort sahen wir ihn einige Male. Ich selbst zwar nicht, nur meine Töchter ließen sie hinein. Als sie das Gefängnis schlossen, brachten sie sie nach Gioúra [= Gyáros] und Makrónisos. Ich habe ihn seit fünf Jahren nicht mehr gesehen“.
„Ist das Haus von Papa-Stávros gleichzeitig mit den anderen abgebrannt?“
„Der hat das meiste von uns allen durchgemacht“. Sie ordnete ihr Kopftuch. „In unserer Gegend gibt es keinen solchen Christen wie Papa-Stávros. Es kommt kein Fremder vorbei, Bettler oder Armer, dem er nicht das gibt, was er hat und nicht hat. Hier verstehen sie nicht seinen Wert. Sie tun so, als ob sie ihn verachteten, weil er arm ist, aber sie fürchten ihn sogar, weil er ihnen die Wahrheit sagt; und deshalb haben sie ihn noch nicht beseitigt. Wenn du wüßtest, was er durchgemacht hat …! Dass er noch nicht verrückt geworden ist!“
„Was meinen Sie?“
Doch unterdessen stand Papa-Stávros einige Meter entfernt in der Tür seines Hauses. Wieviele solcher Erzählungen sind aus demselben Grund nicht zu Ende geführt worden? Immer stelle ich die letzte Frage zu spät. Er lud mich herein zum Kaffee, danach trennten wir uns; jener ging zu seinen Olivenbäumen und ich zu einigen dem Wind ausgesetzten Ruinen oben auf einem Felsen, wo ich den ganzen Tag keinen Menschen sah.
In jener Nacht lud er mich ein, in seinem Haus zu bleiben. „Ich sehe, dass bei dir keine Förmlichkeiten notwendig sind. Wenn du also kannst, sage, dass du einfach ein Bettler bist ...“.
Er zündete den Docht in einem Blechdöschen mit Öl an und wir aßen Brot und Oliven. Er hatte für mich ein Bett aus Brettern und Kisten fabriziert, und für sich selbst legte er einen Flickenteppich auf den Boden. Die schwache runde Flamme brannte, während wir uns im Halbdunkel des Ofens, den er als Haus hatte, unterhielten.
„Du hast keine richtige Gastfreundschaft in unserem Dorf gefunden“, sagte er.
„Und was ist das?“
„Wenn ich dich nur hier gehabt hätte, als das Haus noch aufrecht stand und die Pfarrfrau gelebt hat, um dich so zu versorgen wie es sich gehört. Vor dem Krieg, da hätten sich die Dorfbewohner darum gestritten, wer dich zuerst in sein Haus aufnehmen darf. Jetzt reden sie nur zu dir, um deine Ausweispapiere zu verlangen“.
„Warum fürchten mich die Menschen so sehr?“
„Der eine fürchtet den anderen. Diese Generation ist unbarmherzig. Die Furcht verhärtet den Menschen wie sonst nichts. Weißt du, für einen Pfarrer ist es schwierig an einem Ort, an dem er geboren wurde und sein ganzes Leben verbracht hat. Sie kommen in die Kirche, um zu beichten, und für manche ist es überhaupt nicht einfach … ich sage ihnen, sie sollen vergeben, das sei das einzige Mittel … und sie lachen mir ins Gesicht. Und was soll ich dann machen? Ich verliere meine Selbstbeherrschung … ich kann nichts anderes machen. Ich frage sie „Warum ist vergeben für dich schwieriger als für mich?“. Dann gehen sie. Aber die schlimmsten von allen sind die Pfarrer, die heiligen Dummköpfe! In Nafpaktos sagte ein Archimandrit zu mir „Die Menschen sind Trottel; wir müssen Mittel finden, ihnen zuzureden und ihre Dummheit zu füttern“. Hier, in diesem Dorf, kommen Mitbewohner und sagen zu mir, sie wollen ein Wunder sehen, um zu glauben, sonst ist alles dummes Zeug, sagen sie. Mein Gott, wenn die Welt voller Wunder ist! „Im Nachbardorf“, sage ich ihnen, „ist eine Frau mit zehn Feldern und zwanzig Stämmen mit Oliven, die das beste Öl in der Eparchie geben, und keiner von euch hat sie bisher geheiratet – was ist das? Ist das kein Wunder?“
Ich überlege hin und überlege her, was es ist, das die Griechen zu einem so unerbittlichen Volksstamm macht … Weißt du, dass 1941 die Briten rennend aus Griechenland davonliefen: die Deutschen verfolgten sie, jagten sie, fingen sie überall. Ganze Armeen von Engländern kamen hier vorbei, und ich habe sie alle versteckt – im Keller, im Stall, in Häusern von Freunden, tief im Ofen. Wir versteckten sie wochenlang, ganze Monate, bis ihre U-Boote kamen, und eines Nachts schafften wir es, sie zum Meer zu bringen. Danach kam die Hungersnot. Die Ernten wurden zerstört und ganze Familien starben vor Hunger. Damals ging ich selbst zur Kommandantur und überzeugte die Deutschen, uns etwas Mehl zu lassen, damit wir es bis zum Mähen aushalten. Meine Söhne waren damals weg bei der ELAS [Griechische Volksbefreiungsarmee], sie kämpften gegen die Deutschen. Die zwei großen fingen sie, ich habe sie nie wieder gesehen; meine Dorfgenossen verrieten sie. Das halbe Dorf war damals bei den Sicherheitsbataillonen, auf Seiten der Deutschen. Und es kam die Befreiung. Die Pfarrfrau war bei der Hungersnot gestorben, ich lebte hier, allein, mit einer verheirateten Tochter von mir und ihrem kleinen Buben; in zwei Wochen sollte sie ihr zweites Kind zur Welt bringen. Eines Tages hielt ich Gottesdienst im Nachbardorf; als ich zurückkam, durch die Olivenbäume, sah ich Flammen … Ich glaubte, der Ort brennt. Ich kam zu der Zeit an, als sie mein Haus anzündeten. Ich sah, wie sie meine Tochter herauszerrten, ich sah, wie sie sie töteten – sie schossen alle ihre Kugeln in ihren Bauch. Danach töteten sie auch ihren kleinen Buben, vor meinen Augen“.

Am nächsten Morgen ging ich in die Stadt, um am selben Tag den Zug nach Athen zu nehmen. Es gab immer einen Zug, einen Bus oder auch nur meine zwei Beine, die mich weit weg von Leben brachten, die ich nicht teilen konnte oder von Erfahrungen, wo ich mir schwer tat, sie zu verstehen.
Doch da ich noch viele freie Stunden hatte bis zur Abfahrt des Zuges, ging ich zum Essen in ein Restaurant; dort überraschte mich der Besitzer mit seinen fortgeschrittenen Kenntnissen.
„Du hast bei Papa-Stávros gewohnt, nicht? – er ist mein Schwiegervater. Ich habe seine Tochter geheiratet. Auch sein Sohn ist hier, er ist gerade von der Armee zurückgekommen“, und er rief jemanden, damit er den Gast seines Vaters kennenlernte.
„Hören die Zufälle in diesem Land jemals auf?“ rief ich aus, gerade als ein schlanker junger Mann mit gräulichen Augen zwischen den leeren Tischen hindurch zu meinem Platz kam. „Sie erwarten dich zuhause“.
„Morgen oder übermorgen kommt mein Vater hierher, um mich zu sehen“.
„Gehst du nicht dorthin?“
„Ich gehe nicht dorthin“.
Während ich aß, erzählte ich ihm von meinem Besuch im Dorf. „Dein Vater hat mich aufgenommen ohne zu fragen, wer ich bin. Ein anderer an seiner Stelle hätte gedacht, ich wäre ein –“ ich zögerte.
„Spion“.
„Gestern abend erzählte mir dein Vater, was eurer Familie passiert ist“.
„Dann verstehst du also, warum ich nicht zurückgehe, und warum ich seit sechs Jahren dort nicht mehr gewesen bin“.
„Sag mir etwas. Die Menschen, die die Häuser niedergebrannt haben, die Menschen, die deine Schwester und ihren Buben getötet haben – was ist aus ihnen geworden?“
„Was aus ihnen geworden ist?“ Er schaute mich mit dem kindlichen, unschuldigen Blick des Papa-Stávros an. „Nichts“.
„Was meinst du?“
„Sie sind alle dort oben“.
„Im Dorf?“
„Wo sollen sie hingehen?“
„Aber … jener weiß, welche das getan haben?“
„Er weiß es. Nichts bleibt geheim im Dorf. Jeden Tag sieht er sie; er geht an ihnen vorbei auf die Felder, sitzt mit ihnen in der Taverne. Am Morgen sagen sie Guten Morgen, sie reden, sie machen Scherze“.
„Aber wie hält er das aus?“
„Wie er das aushält?“ wiederholte er. „Der Mensch ist härter als ein wildes Tier“.

Kevin Andrews hat noch weitere Bücher geschrieben, z.B. : Cities of the World: Athens, erschienen 1967 oder „Greece in the dark: . . . 1967-1974“, erschienen 1980, wo er die Zeit der Obristendiktatur in Griechenland beschreibt. 1975 nahm Kevin Andrews die griechische Staatsbürgerschaft an.

Im Sommer 1989 reist er mit seiner damaligen Lebensgefährtin Elizabeth Boleman-Herring nach Kythira. Sie schreibt [https://weeklyhubris.com/a-farewell-to-ikaros-for-kevin-andrews/]:

Seit dem Tag, an dem wir angekommen waren, hatte es sich Kevin in den Kopf gesetzt, nach Trachylos zu gehen und nach Hitra oder Avgo, der Robbeninsel, ungefähr 5 km von der Küste entfernt, zu schwimmen. „Wenn die Strömung zu stark ist, komme ich zurück. Auf halbem Weg nach Hitra winke ich dir zu, damit du siehst, dass es mir gut geht. Ich winke beim Hinweg und beim Rückweg.“
Um sechs Uhr abends, am Freitag, dem 1. September, winkte mir Kevin zu, etwa anderthalb Meilen entfernt, also auf halben Weg bei seiner langen Schwimmtour nach Avgo. Winken oder Ertrinken? Winken und Ertrinken? Ich werde es nie wissen.“

Am Tag darauf wurde Kevin Andrews von einem Fischer in einer entfernten Bucht gefunden. Er hatte einen epileptischen Anfall erlitten und war ertrunken.